M. Becker: Arbeitsvertrag und Arbeitsverhältnis

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Title
Arbeitsvertrag und Arbeitsverhältnis während der Weimarer Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus.


Author(s)
Becker, Martin
Series
Juristische Abhandlungen 44
Published
Frankfurt am Main 2004: Vittorio Klostermann
Extent
XVI, 628 S.
Price
€ 78,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Matthias Willing, Institut für Rechtswissenschaft, Otto-Friedrich-Universität Bamberg

Die Anfänge des modernen Arbeitsrechts in Deutschland reichen bis in das 19. Jahrhundert zurück. Als Folge der Industrialisierung entwickelte es sich nach dem In-Kraft-Treten des Bürgerlichen Gesetzbuches am 1. Januar 1900 allmählich zu einem eigenständigen Rechtsgebiet. Mit der vorliegenden Untersuchung, die 2002 als juristische Habilitationsschrift an der Frankfurter Johann Wolfgang Goethe-Universität eingereicht wurde, unternimmt es Martin Becker, Arbeitsvertrag und Arbeitsverhältnis in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus zu beleuchten. Er knüpft damit an seine 1995 erschienene Dissertation an, die demselben Thema von der Industrialisierung bis zum Ende des Kaiserreichs gewidmet war.1 Dass beide Werke als Einheit zu begreifen sind, wird nicht zuletzt durch das Register der aktuellen Monografie deutlich, das sich gleichzeitig auch auf die Vorgängerstudie bezieht.

Im Anschluss an eine Einleitung, die die Aufgabenstellung, den Forschungsstand und die arbeitsrechtlichen Grundlagen umreißt, wendet sich Becker in dem ersten Hauptteil der Weimarer Republik zu. Zunächst erörtert er umfassend die Arbeitsverfassung, die sich im Spannungsfeld von revolutionären und reaktionären Einflüssen herauskristallisierte. Als vorläufiges Ergebnis entstand ein Kompromiss, der sich im so genannten Stinnes-Legien-Abkommen vom November 1918 manifestierte. Es setzte auf eine kapitalistische Sozialpartnerschaft statt auf Sozialisierung und fixierte unter anderem den achtstündigen Maximalarbeitstag. Die Weimarer Reichsverfassung (WRV) stellte eine bedeutende Zäsur auch in arbeitsrechtlicher Hinsicht dar, da sie erstmals in der Geschichte die arbeitsrechtlichen, sozialgestaltenden Sätze in den Grundrechtskatalog aufnahm. Hervorzuheben ist Art. 165 WRV, der die gewerkschaftliche Mitwirkung der Arbeitnehmer an der Betriebsorganisation verankerte und der damals weit verbreiteten sozialistischen Räteidee eine Absage erteilte. Die wirtschaftliche Entwicklung setzte indes der Tarifautonomie und den Arbeitskämpfen enge Grenzen, so dass die Zwangsschlichtung während der Weimarer Republik eine große Bedeutung erhielt. Dennoch konnten die Arbeitnehmer auf dieser Basis in den „goldenen zwanziger Jahren“ Einkommenszuwächse erzielen. Auch gelang es, im Juli 1927 die sozialversicherungsrechtliche Absicherung der Arbeitslosenunterstützung gesetzlich zu verankern. Mit fortschreitender Arbeitslosigkeit seit 1929 wurde die Weimarer Arbeitsverfassung jedoch immer heftiger attackiert und die Zwangsschlichtung von Arbeitgeberseite angegriffen, so dass ihre Fundamente ausgehöhlt wurden.

Mit dem Übergang vom kaiserlichen Obrigkeitsstaat zu den demokratischen Verhältnissen von Weimar war für die junge Disziplin der Arbeitsrechtswissenschaft eine Diskussion um die Grundlagen des eigenen Faches verbunden. Ausgehend von den elementaren Begriffen – beispielsweise Arbeitnehmer, Arbeitsvertrag, Arbeitsverhältnis – sah man sich vor die Aufgabe gestellt, eine neue arbeitsrechtliche Dogmatik zu entwickeln, die mit den verfassungsmäßigen Vorgaben korrelierte. Becker befragt deshalb die führenden Arbeitsrechtler der Weimarer Republik nach den Inhalten ihrer theoretischen Konzeptionen, wobei sich personelle Überschneidungen sowohl zum Zeitraum vor 1918 als auch zum Nationalsozialismus ergeben. Insgesamt behandelt Becker 15 Koryphäen der Zunft, deren einschlägige Schriften mehr oder weniger durchgängig nach dem Schema „Grundlegung“, „Der Arbeitnehmerbegriff“, „Der Arbeitsvertrag“, „Das Arbeitsverhältnis“ und „Würdigung“ untersucht werden. Die Bedeutung und die Bekanntheit der analysierten Persönlichkeiten sind höchst unterschiedlich. Während Becker beispielsweise bei dem „Vater des deutschen Arbeitsrechts“, Hugo Sinzheimer (1875-1945), auf umfassende Forschungen zurückgreifen konnte2, betritt er bei Melsbach offenbar Neuland. Informationen zu seiner Biografie werden nicht gegeben, selbst der Vorname bleibt unerwähnt. Hier, wie auch an der einen oder anderen Stelle, hätte man sich eine tiefer gehende personenbezogene Recherche gewünscht.

Auch hinsichtlich der arbeitsrechtlichen Theorien herrschte ein breites Meinungsspektrum vor, wobei allgemein zu konstatieren ist, dass die Konzepte von Arbeitsvertrag und Arbeitsverhältnis aus dem allgemeinen Zivilrecht herausgelöst und Teil eines „sozialen“ Rechts wurden. Insgesamt blieben jedoch die meisten arbeitsrechtlichen Grundlegungen vage und diffus, enthielten ungleiche Pflichtenbindungen zu Lasten der Arbeitnehmer und betonten das Gewicht des Gemeinschaftsinteresses gegenüber dem individuellen Freiheitsschutz. Eine kapitalismus-kritische Position bezog Karl Renner (1870-1950), Österreichs erster Nachkriegspräsident in der Zweiten Republik. Warum der prominente Austromarxist Aufnahme fand, obwohl sein Werk „Die Institution des Privatrechts und ihre soziale Funktion“ im Jahr 1904 erschien, ist allerdings nicht ersichtlich. Neben Sinzheimer sieht Becker die wesentlichen Elemente des Arbeits- und Sozialrecht der Weimarer Reichsverfassung nur noch bei Walter Kaskel (1882-1928) verwirklicht, der vom Gedanken der Gleichrangigkeit und der individuellen Selbstbestimmung im Arbeitsverhältnis geleitet wurde. Deshalb gelangt der Verfasser unter Einbeziehung der Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts (RAG) zu der abschließenden Gesamteinschätzung: „Der Prozeß der Re-Etablierung von unfreiheitlichen Konzeptionen des Arbeitsrechts und des Arbeitsverhältnis [sic!] war damit sowohl von der Rechtsprechung, aber auch von weiten Teilen der Arbeitsrechtswissenschaft bereits lange vor dem Ende der Weimarer Republik eingeläutet“. (S. 332)

Im zweiten Hauptteil seiner Untersuchung befasst sich Becker mit der Entwicklung des Arbeitsrechts im Nationalsozialismus. Unmittelbar nach der Machtübernahmen versuchte das neue Regime, die Kontrolle über die Wirtschaftsordnung zu erlangen und sie zu einer autoritären, hochgradig repressiven Kommandowirtschaft umzuformen. Die Gewerkschaften wurden zerschlagen, an ihre Stelle im Mai 1933 die systemtreue „Deutsche Arbeitsfront“ (DAF) gesetzt. Die Festlegung der Löhne erfolgte nicht mehr im Zusammenspiel der Tarifparteien, sondern von staatlicher Seite durch „Treuhänder“. Die freie Wahl des Arbeitsplatzes wurde eingeschränkt und zunehmend eine Arbeitskräftelenkung durchgeführt. Laut Becker könne man geradezu von einer „Refeudalisierung“ der Wirtschaftsbeziehungen sprechen (S. 380). Die Arbeits- und Betriebsverfassung erfuhr durch das Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit vom 20. Januar 1934 eine völlige Neuordnung im NS-Sinne. Das „Führerprinz“ wurde etabliert, das Streikrecht abgeschafft, der Arbeitsvertrag entwertet, der Betriebsrat durch den „Vertrauensrat“ ersetzt, die Beschäftigten auf die „Betriebsgemeinschaft“ beziehungsweise auf die übergeordnete „Volksgemeinschaft“ eingeschworen, die Pflicht zu Treue, Fürsorge und Gefolgschaft implementiert und missliebige Personengruppen (z.B. Juden, später Zwangs- und „Fremdarbeiter“) rigoros ausgegrenzt. Integration und Disziplinierung der Arbeitsnehmer, Reglementierung und Verstaatlichung der Arbeitsbeziehungen nahmen stetig zu und gipfelten schließlich im Rahmen der Kriegswirtschaft in einer nahezu totalen Kontrolle des Regimes.

Nach den allgemeinen Ausführungen zur Arbeitsverfassung im Nationalsozialismus wendet sich Becker wiederum dem Wirken von rund einem Dutzend Arbeitsrechtler zu. Nachdem zunächst jüdische Fachvertreter wie Hugo Sinzheimer, Erwin Jacobi (1884-1965) und Wilhelm Silberschmidt (1862-1939) ausgeschaltet worden waren, herrschte innerhalb der Disziplin ein weitgehend konformes Bild vor. Zwar bestanden in Einzelfragen durchaus Differenzen und abweichende Standpunkte, doch wurde letztendlich die NS-Ideologie mit ihren autoritären und menschenverachtenden Bestandteilen allen arbeitsrechtlichen Konzeptionen übergeordnet. Zu den Repräsentanten dieser Linie gehören unter anderem Hermann Dersch (1883-1961), Rolf Dietz (1902-1971), Wilhelm Herschel (1895-1986), Alfred Hueck (1889-1975), Erich Molitor (1886-1963), Arthur Nikisch (1888-1968) und Hans Carl Nipperdey (1895-1968), die alle ihre Karriere nahezu bruchlos in der Bundesrepublik fortsetzen konnten.3 Diese Arbeitsrechtswissenschaftler erfüllten „in jedem Fall [...] die Merkmale der kooperierenden Funktionselite“ (S. 575). Auch die Entwürfe für ein Arbeitsgesetzbuch der Jahre 1938 und 1942 sowie die Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts, die Becker im Anschluss untersucht, spiegeln denselben Befund wider.

Das Werk von Martin Becker zeichnet sich durch eine sorgfältige Analyse und ein ausgewogenes Urteil aus. Man vermisst allerdings ein Abkürzungsverzeichnis, das die Siglen der juristischen Zeitschriften und des Textes aufschlüsselt. Für jeden, der sich mit der Geschichte der Arbeitsrechtswissenschaft zwischen 1918 und 1945 beschäftigt, stellt es ein unentbehrliches Hilfsmittel dar. Man darf gespannt sein, ob Becker seine historischen Untersuchungen zum Arbeitsrecht in Deutschland zu einer Trilogie erweitern und die Nachkriegsgeschichte in der Bundesrepublik sowie der DDR in den Blick nehmen wird.

Anmerkungen:
1 Becker, Martin, Arbeitsvertrag und Arbeitsverhältnis in Deutschland. Vom Beginn der Industrialisierung bis zum Ende des Kaiserreichs, Frankfurt am Main 1995.
2 Knorre, Susanne, Soziale Selbstbestimmung und individuelle Verantwortung: Hugo Sinzheimer (1875-1945). Eine politische Biographie, Frankfurt am Main 1991; Kubo, Keiji, aru hôgakusha no jinsei – Hugo Sinzheimer, Tokyo 1986; Deutsche Ausgabe: Ders., Hugo Sinzheimer – Vater des deutschen Arbeitsrechts. Eine Biographie, Nördlingen 1995.
3 Nur sporadisch werden Erich Fechner (1903-1991) und Wolfgang Siebert (1905-1959) erwähnt. Der Name Ludwig Schnorr von Carolsfeld (1903-1989) taucht lediglich im Literaturverzeichnis auf. Andere Fachvertreter wie Eduard Bötticher (1899-1989), Walter Hallstein (1901-1982), Helmut Georg Isele (1902-1987) und Rudolf Reinhardt (1902-1976) bleiben ganz außer Betracht.

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